H.I.V. POSITIVE (BGH – I ZR 180/94)

Ein Unternehmen, das in Werbeanzeigen mit der Abbildung eines menschlichen Körperteils mit dem Stempelaufdruck „H.I.V. POSITIVE“ auf seinen Namen aufmerksam macht, betreibt eine sittenwidrige Image-Werbung. Wer in dieser Weise wirbt, nutzt nicht nur Gefühle des Mitleids und des Schreckens zu kommerziellen Zwecken aus, sondern mißachtet zugleich die Würde eines H.I.V.-infizierten Menschen.


 Ein Presseunternehmen, das eine solche Anzeige veröffentlicht, handelt ebenfalls wettbewerbswidrig. Es verletzt seine Pflicht, Werbeanzeigen, deren grob wettbewerbswidriger Charakter ohne weiteres im Rahmen einer ihm zumutbaren Prüfung erkennbar ist, nicht zu veröffentlichen.

BGH, I ZR 180/94 – 06.07.1995 – LG Frankfurt a.M.

 

 

Die Revision gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 27. Juli 1994 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

 
Tatbestand:  

In einer Ausgabe der Zeitschrift „S.“, deren Herausgeberin die Beklagte ist, hat die Firma Benetton, welche weltweit Textilien vertreibt, ein doppelseitiges Farbphoto veröffentlicht, welches – unstreitig – einen nackten menschlichen Körperteil mit dem Stempelaufdruck „H.I.V. POSITIVE“ zeigt. Am rechten unteren Bildrand befindet sich auf grünem Feld der Hinweis „United Colors of Benetton“.
 
Der Kläger, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, hat diese Werbemaßnahme als wettbewerbswidrig beanstandet. Er hat die Auffassung vertreten, die Verwendung der angegriffenen Photographie zu Werbezwecken verstoße gegen die guten Sitten im Wettbewerb, weil sie in einer mit Sinn und Zweck des Leistungswettbewerbs nicht im Einklang stehenden Weise schwerstes menschliches Leid dazu benutze, den Warenabsatz der Firma Benetton zu steigern. Die Firma Benetton wolle mit der veröffentlichten Photographie die angesprochenen Verbraucher schockieren, Aufmerksamkeit erregen und eine ganze Bandbreite von Gefühlen wie Entsetzen und Mitleid erzeugen, um damit zu erreichen, dass ihr Warenzeichen „in aller Munde“ sei.
 
Er hat beantragt, der Beklagten zu verbieten, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs mit der in Anlage K 1 zur Klageschrift abgebildeten Werbung (abgedruckt in der Zeitschrift „S.“, Ausgabe) für die Firma Benetton S.p.A. zu werben.
 
Die Beklagte ist dem unter Berufung auf die durch Art. 5 GG gewährleistete Pressefreiheit entgegengetreten. Sie hat die Auffassung vertreten, die beanstandete Werbung weise zwar in allegorischer Form auf die Situation AIDS-Kranker hin, enthalte sich jedoch jeglicher Werbung und sei deshalb nicht wettbewerbswidrig. Darüber hinaus könne die Beklagte als Presseunternehmen nach den Grundsätzen der eingeschränkten Pressehaftung nicht für die Werbeanzeige der Firma Benetton verantwortlich gemacht werden, weil diese – wie die kontroverse Diskussion hierzu in Literatur und Rechtsprechung zeige – jedenfalls keinen groben und eindeutigen Wettbewerbsverstoß enthalte.
  
Das Landgericht (AfP 1994, 242) hat der Klage stattgegeben. Die Revision verfolgt den Antrag der Beklagten weiter, die Klage abzuweisen. Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision.

 
Entscheidungsgründe:

 

I. Das Landgericht hat einen Verstoß gegen § 1 UWG bejaht. Es hat ausgeführt, in der angegriffenen Werbeanzeige werde in einer Weise zu Wettbewerbszwecken Aufmerksamkeit für die Firma Benetton und deren Produkte erregt, die sittenwidrig sei. Das in der Anzeige gewählte Motiv stehe in keinerlei Zusammenhang mit den Produkten und dem Unternehmen der Firma Benetton. Die Anzeige schockiere den Betrachter, um unter bedenkenloser Ausnutzung der Gefühle des umworbenen Publikums den Namen des Unternehmens und seiner Produkte ihm einzuprägen. Die angegriffene Anzeige lege es dem Betrachter durch die Anspielung auf die Häftlingsnummern der Opfer des Holocaust nahe, AIDS-Kranke seien heute in gleicher Weise wie Juden und Regimegegner zu Zeiten der nationalsozialistischen Diktatur stigmatisiert, gesellschaftlich ausgegrenzt und verfolgt. Dadurch sollten die Betrachter emotional zutiefst bewegt werden, so dass sich ihnen die Werbeanzeige einpräge. Diesen Vorgang nutze die Firma Benetton aus, um dem Betrachter mit Hilfe des grünen Feldes mit den Worten „United Colors of Benetton“ ihre Unternehmensbezeichnung und den damit verbundenen Hinweis auf ihre Produkte unterzuschieben, um so ohne Bezug zu ihren tatsächlichen Leistungsergebnissen Vorteile ihrer wettbewerblichen Stellung zu erlangen und Umsatzsteigerungen zu erzielen. Der Unterlassungsanspruch richte sich auch gegen die Beklagte, weil sie in der nicht nur untergeordneten Nebenabsicht, fremden Wettbewerb zu fördern, unter Verstoß gegen die ihr obliegende Prüfungspflicht eine Anzeige veröffentlicht habe, die grob und eindeutig sittenwidrig sei.
 
II. Diese Beurteilung hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
 
1. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei und in verfahrensrechtlich nicht zu beanstandender Weise (§ 566a Abs. 3 ZPO) festgestellt, dass die Anzeige, die den Aids-Kranken in seinem Leid stigmatisiert und gesellschaftlich ausgrenzt, den Betrachter emotional zutiefst bewegt und dabei bewirkt, dass sich die Werbeanzeige mit ihrem Hinweis auf den Namen Benetton dem Verbraucher einprägt. Das Landgericht hat mit seiner Beurteilung, es sei mit den guten Sitten im Wettbewerb nicht zu vereinbaren, dass die Firma Benetton die mit der Abbildung von menschlichem Leid auf dieser Welt ausgelösten Wirkungen auf den Verbraucher zur Förderung eigener kommerzieller Interessen ausnutze, die rechtlichen Schlußfolgerungen gemäß § 1 UWG aus den vorgegebenen Tatsachen gezogen.
 
2. Die vom Landgericht im Streitfall getroffene Beurteilung, wonach die beanstandete Anzeigenaktion der Firma Benetton mit den guten Sitten im Wettbewerb nicht in Einklang zu bringen ist, erweist sich als frei von Rechtsfehlern.
 
a) Wie der Senat in seinen am selben Tag in den Verfahren des Klägers gegen die Firma Benetton (betreffend die Anzeigen- und Plakatwerbung „Ölverschmutzte Ente“ – I ZR 239/93) und gegen die Beklagte (betreffend die Anzeigenwerbung „Ölverschmutzte Ente“ und „Schwer arbeitende Kleinkinder der Dritten Welt“ – I ZR 110/93) ergangenen Entscheidungen ausgeführt hat, unterliegt auch die Aufmerksamkeitswerbung eines gewerblichen Unternehmens dem Verbot sittenwidrigen Handelns i.S. des § 1 UWG. Unter Abwägung des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG) und den Anforderungen wettbewerbsgemäßen Verhaltens nach den Normen des UWG ist eine Image-Werbung – ohne dass ihr ein Bezug zum Waren- oder Dienstleistungsangebot zukommen muß – als sittenwidrig zu beanstanden, wenn das werbende Unternehmen mit der Darstellung des Elends der Welt – sei es der Kreatur im allgemeinen, sei es des Menschen im besonderen – starke Gefühle des Mitleids und der Ohnmacht weckt, sich dabei als gleichermaßen betroffen darstellt und damit eine Solidarisierung der Einstellung solchermaßen berührter Verbraucher mit dem Namen und zugleich mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens herbeiführt. Wer so wirbt, nutzt Gefühlsregungen des Mitleids und des Schreckens dazu, den Namen oder die Kennzeichen seines Unternehmens, die im wesentlichen dessen Werbewert darstellen, bekanntzumachen. Der Verbraucher widmet nämlich den Angeboten eines Unternehmens, dessen Namen er kennt, von vornherein eine erhöhte Aufmerksamkeit. Wegen dieser Werbewirkung stehen sonach auch Maßnahmen, die der Pflege des Namens eines Unternehmens dienen, unter dem Vorbehalt des Verbots sittenwidrigen Verhaltens gemäß § 1 UWG.
 
b) Für den Streitfall – der Abbildung eines menschlichen Körperteils mit dem Stempelaufdruck „H.I.V. POSITIVE“ – ist des weiteren in Übereinstimmung mit dem Landgericht davon auszugehen, dass die Werbeanzeige nicht nur das Gefühl des Mitleids in starkem Maße anspricht, sondern in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde verstößt, indem sie den AIDS-Kranken als „abgestempelt“ und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstellt. Eine solche Werbung läßt sich nicht mehr als eine nur geschmacklose Werbung klassifizieren, die als solche keiner „Zensur“ durch die Wettbewerbsgerichte unterliegt (vgl. die Entscheidungen vom selben Tage I ZR 239/93 und I ZR 110/93). Sie hat den Bereich bloß schlechten Geschmacks weit überschritten.
 
a) Diese Werbung muß zumindest von Personen, die selbst HIV-positiv sind, als grob anstößig und ihre Menschenwürde verletzend angesehen werden, eine Wirkung, der sich auch ein Betrachter, der nicht selbst oder durch persönliche Beziehungen zu Aids-Kranken unmittelbar mit dem lebensbedrohenden Aids-Virus konfrontiert worden ist, nicht entziehen kann. Die vom Kläger in dem vorausgegangenen einstweiligen Verfügungsverfahren vorgelegte, in einer französischen Tageszeitung als Reaktion auf die Benetton-Werbung erschienene Anzeige eines AIDS-Kranken, welche dessen von der Krankheit gezeichnetes Gesicht zeigt und den Untertitel trägt „pendant l’agonie, la vente continue“ (während des Todeskampfes, der Verkauf geht weiter), ist ein deutliches Zeichen dafür, wie zynisch und menschenverachtend die Darstellung menschlichen Leids in der Werbung der Firma Benetton von Betroffenen empfunden werden muß.
 
b) Zutreffend hat das Landgericht auch die Stigmatisierung des AIDS-Kranken als jenseits einer Diskussion über einen bloß schlechten Geschmack angesiedelt angesehen.
 
Die Revision meint hierzu, diese Erwägungen lägen in einer diffusen Grauzone zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung; das Landgericht könne nicht ernsthaft angenommen haben, dass ein Vergleich mit der Ausgrenzung von Menschen in der Vergangenheit für die heutige jüngere Generation, an die sich die Werbung der Firma Benetton in erster Linie wende, naheliegen könnte. Die Beurteilung des Landgerichts treffe somit nicht das allgemeine Anstandsgefühl, auf welches es nach § 1 UWG ankomme.
 
Diese Argumentation der Revision verschließt sich dem Verständnis des Revisionsgerichts. Unkenntnis oder Blindheit eines – für die rechtliche Beurteilung ohnehin nicht allein repräsentativen – Teils der Bevölkerung vor diskriminierenden Geschehnissen der Vergangenheit, verdienen in diesem Zusammenhang keine rechtliche Beachtung, sondern gebieten es, auch im wettbewerbsrechtlichen Bereich, d.h. wenn es darum geht, aus kommerziellem Interesse diese Unkenntnis zu nutzen, einer Abstumpfung gegen die Diskriminierung leidgeplagter Menschen und einer aufkeimenden Mentalität des „Abstempelns“ bestimmter Mitglieder der Gesellschaft entgegenzuwirken.
 
cc) Die Revision, welche in diesem Zusammenhang eine Befragung der Allgemeinheit für erforderlich erachtet, verkennt, dass der Richter bei der Anwendung des vom Gesetz vorgegebenen unbestimmten Rechtsbegriffs der guten Sitten seiner ihm obliegenden Aufgabe nachkommt, diesen auszufüllen und auszulegen. Das normative Element des Begriffs der guten Sitten im Wettbewerb, sich so zu verhalten, wie es sein soll, nicht wie es (mehrheitlich) geschieht oder geduldet wird, läßt es nicht zu, den Begriff der guten Sitten im Wettbewerb, ebensowenig wie die diesen determinierende Wertordnung der Verfassung, dem Ergebnis einer Verkehrsbefragung zu überlassen (vgl. Ullmann, GRUR 1991, 789, 791). Soweit der Richter bei der Anwendung des Begriffs der guten Sitten auf das Anstandsgefühl des verständigen Durchschnittsgewerbetreibenden abstellt, verwendet er dieses symbolhaft als Ausdruck seiner rechtlichen Wertung, die er unter Berücksichtigung vorhandener Sozialnormen aufgrund der Rechtsordnung, insbesondere der Wertprinzipien der Verfassung, unter Abwägung der schutzwürdigen Interessen und Güter der Verkehrsbeteiligten vorzunehmen hat (Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 17. Aufl., Einl. UWG Rdn. 91).
 
3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision auch gegen die Ausführungen des Landgerichts, wonach die Beklagte für die wettbewerbswidrige Anzeige der Firma Benetton einzustehen habe. Das Landgericht hat nicht verkannt, dass die Beklagte als Presseunternehmen, auch wenn dieses bei der Veröffentlichung von Werbeanzeigen regelmäßig in objektiver und subjektiver Hinsicht zu Wettbewerbszwecken handelt, unter Berücksichtigung des Presseprivilegs des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG wettbewerbsrechtlich nur zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn die Werbung grob rechtswidrig ist und der Wettbewerbsverstoß den Verantwortlichen des Presseunternehmens auch ohne eine eingehende wettbewerbsrechtliche Prüfung erkennbar ist (vgl. Urt. vom selben Tag I ZR 110/93 m.w.N.). Angesichts der aufgezeigten Tragweite des Wettbewerbsverstoßes der hier streitigen Image-Werbung, deren grob wettbewerbswidriger Charakter im Rahmen einer dem Presseunternehmen zumutbaren Prüfung ohne weiteres erkennbar gewesen wäre, ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die Haftung der Beklagten aus der Mißachtung ihrer Verpflichtung, die Werbeanzeige nicht zu veröffentlichen, hergeleitet hat.
 
III. Nach alledem ist die Revision der Beklagten mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.